Vergißmeinnicht
Das Kindlein schleicht am Wiesenbach
Den Blumen nach,
Da winkt ein Blümlein himmelblau,
Beperlt von Tau.
Fünf Blättchen steh’n gereiht als Stern
Mit goldnem Kern.
Das Blümlein spricht zum Kind:
„Ich bitt‘,
O nimm mich mit.
Ich bleibe dir daheim am Tisch
Im Glase frisch.
Ich blühe dir allmorgens neu,
In stiller Treu,
Mein Herz ist fromm und sanft
mein Licht,
Vergiß mein nicht!“
Der Jüngling greift im Wandermut
Nach Stab und Hut,
Ihn zieht es fern vom Vaterhaus
Zur Welt hinaus,
Und Freund um Freund die Hand ihm bot:
„Behüt dich Gott!“
Ein Mägdlein still beiseite stand,
Es schweigt ihr Mund,
Ihr Auge schimmert himmelblau,
Beperlt von Tau:
Dein denk‘ ich alle Morgen neu
In stiller Treu,
Mein Herz ist fromm und sanft mein Licht,
Vergiß mein nicht!“
Es steht der Mann im Weltgewühl,
Der Tag ist schwül,
Der Hammer klopft, die Räder dreh’n,
Die Mühlen geh’n,
Zum Beten hat er wenig Zeit –
In Kampf und Streit,
Zum Himmel blickt er kaum hinauf
Im Tageslauf,
Da bricht ein Fleckchen Himmelblau
Durchs Wolkengrau:
„Dir lebt ein Gott, des Lieb‘ und Treu
Allmorgens neu
Drum himmelan dein Angesicht,
Vergiß mein nicht!“
Still sitzt der Greis im Kämmerlein
Bei Lampenschein,
Er liest, es blättert leis die Hand
Im alten Band,
Und plötzlich aus dem Auge feucht
Ein Tropfen schleicht.
Der Zeit gedenkt er still und treu,
Wo’s frisch und neu;
Der Hand gedenkt er tiefbewegt;
die’s eingelegt;
Das welke blaue Blümlein spricht:
„Vergiß mein nicht!“
Karl von Gerok