Morgenrot
Es war ein trüber Morgen,
Dass ich am Fenster lag
Und sah voll düstrer Sorgen
Hinaus in den grauenden Tag.
Noch schlief die dunkle Erde
Im schweren Morgendampf,
Bald kommt des Tags Beschwerde,
Des Lebens Not und Kampf.
Noch schwieg des Nachbars Kammer
Dort unterm schwarzen Dach,
Bald wird der alte Jammer
In hundert Häusern wach.
Mein Auge ward mir trüber,
Mein Herze ward mir schwer:
Ach dass der Tag vorüber,
Das Leben vorüber wär!
Da sah ich durch den Himmel
Ein plötzlich Frührot glühn,
Das graue Wolkengewimmel
Von tausend Rosen blühn.
Der Morgenröte Flügel
Hoch über das dunkle Land,
Hoch über die Täler und Hügel
Wildleuchtend ausgespannt.
Ein himmlisch Wunderzeichen!
Noch eh ich satt mich sah,
Muss schon die Glut erbleichen,
Der graue Tag ist da;
Doch glüht mir in den Adern
Des Frührots Feuer noch,
Und auf mich ohne Hadern
Nehm ich des Tages Joch.
Mich hat aus himmlischem Becher
Ein Morgentrunk erquickt,
Hoch über der Erde Dächer
Ward ich im Geist entzückt;
Hinauf wo die ewige Liebe
Durch Wolken herunter sieht,
Und, ob der Tag auch trübe,
Verborgen mit uns zieht.
Mir ists, als würd am Ende
Noch alles Bittre gut,
Ich legs in Gottes Hände
Und habe guten Mut.
Karl Gerok