Die Paradiesesströme
Vier Ströme trugen einst von Edens Schwellen
Die süße Flut hinaus ins weite Land:
Der Pison führte Gold in seinen Wellen,
Der Gihon wars, der Mohrenland umwand,
Durch Assurs Flur sah man Hidekel quellen.
Der stolze Phrat bespülte Babels Strand,
Frisch brausten sie, die Paradiesessöhne,
Die Welt entlang in heller Jugendschöne.
Nun aber ist das Paradies verschollen,
Des Lebens Baum durch Menschenschuld entlaubt;
Ob tausend Ströme rings die Welt durchrollen,
Sie fließen trüb, des alten Schmucks beraubt:
Von Tränen sind sie und von Blut geschwollen,
Von Sündenschmutz und Erdenweh bestaubt;
Die Menschheit sitzt im Sack und in der Asche,
Wo ist der Strom, darin sie rein sich wasche?
Da senkte Gott in seiner Wundergüte
Ein himmlisch Reis in diesen Erdenraum,
Das Wort ward Fleisch, auf Judas Flur erblühte
In neuer Pracht des Lebens goldner Baum;
Sein Duft ergeht in alle Weltgebiete,
Sein Schatten reicht zum fernsten Meeressaum,
Und dass die Welt sich Gnad und Gnade nehme,
Entquellen ihm v i e r P a r a d i e s e s s t r ö m e .
Der erste Strom ergießet sich kristallen
In vollen Wogen übers Erdenrund,
Drin spiegeln sich des Himmels blaue Hallen,
Auch führt er Gold und Perlen tief im Grund,
Viel tausend Pilger sieht man zu ihm wallen,
Sie schöpfen all und trinken sich gesund;
Kennst du ihn nicht, den Strom voll Himmelsklarheit?
O schöpf auch du – es ist das W o r t d e r W a h r h e i t !
Der zweite quillt an blumigen Gestaden
Durch grüne Aun in silberhellem Schein,
Drin dürfen sich die zarten Kindlein baden,
Man taucht sie sanft in seine Fluten ein;
Auch Mohrenland ist zu ihm eingeladen,
Sei schwarz von Schmutz, er wascht dich weiß und rein;
Nur dass er dir nicht bloß die Stirn betraufe,
Nein, auch das Herz – der Gnadenstrom der T a u f e !
Der dritte Strom kommt rot einhergeflossen,
Wie dunkler Wein, wie purpurfarbnes Blut,
Als hätt in ihn ein göttlich Herz ergossen
Zum Heil der Welt all seine Liebesglut;
Der Priester schöpft den glaubigen Genossen
In goldnem Kelch die edle Purpurflut;
Nimm hin und trink, begnadigte Gemeine,
Das Blut des Herrn im heil’gen N a c h t m a h l s weine!
Der vierte Strom, gleich einer Feuerflamme,
Kann Herz und Adern wunderbar durchglühn;
Den grimmen Tiger wandelt er zum Lamme,
Und schwache Lämmer macht er löwenkühn,
Die vom Propheten. und Apostelstamme,
Man sah sie all von seinem Feuer sprühn;
Auch dir uns mir, der Vater selbst verheißt es,
Fließt er zum Heil – der Strom des h e i l ’ g e n G e i s t e s !
Nun freue dich, du fluchbeladne Erde,
Dieweil solch Lebenswasser dich benetzt;
Dass neu die Welt ein Garten Gottes werde,
Hat es der Herr zum Segen dir gesetzt;
Nun schöpf, o Herz, in jeglicher Beschwerde,
Hier quillt ein Labsal, das die Seele letzt,
Und kommst du einst zur Paradiesesschwelle,
Dann, dürstend Herz, dann trinkst du an der Q u e l l e !
Karl Gerok