Die Liebe
Eine Schale des Harms, eine der Freuden wog
Gott dem Menschengeschlecht; aber der lastende
Kummer senket die Schale,
Immer hebet die andre sich.
Irren, traurigen Tritts wanken wir unsern Weg
Durch das Leben hinab, bis sich die Liebe naht,
Eine Fülle der Freuden
In die steigende Schale gesußt.
Wie dem Pilger der Quell silbern entgegenrinnt,
Wie der Regen des Mais über die Blumen träuft,
Naht die Liebe; des Jünglings
Seele zittert und huldigt ihr!
Näm‘ er Kronen und Gold, mißte der Liebe? Gold
Ist ihm fliegende Spreu, Kronen ein Flittertand,
Alle Hoheit der Erde
Flügelt Stunden an Stunden fort.
Herrscher neideten ihn, kosteten sie des Glücks,
Das dem Liebenden ward, würfen den Königsstab
Aus den Händen und suchten
Sich ein friedliches Hüttendach.
Unter Rosengesträuch spielet ein Quell und mischt
Zum begegnenden Bach Silber; so strömen flugs
Seel‘ und Seele zusammen,
Wann allmächtige Liebe naht.
Ludwig Christoph Heinrich Hölty