Die beraubte Fabel
Es zog die Göttin aller Dichter,
Die Fabel, in ein fremdes Land,
Wo eine Rotte Bösewichter
Sie einsam auf der Straße fand.
Ihr Beutel, den sie liefern müssen,
Befand sich leer; sie soll die Schuld
Mit dem Verlust der Kleider büßen,
Die Göttin litt es mit Geduld.
Hier wies sich eine Fürstenbeute,
Ein Kleid umschloß das andre Kleid;
Man fand verschiedner Tiere Häute,
Bald die, bald jene Kostbarkeit.
Hilf Himmel, Kleider und kein Ende!
„Ihr Götter!“ schrien sie, „habet Dank;
Ihr gebt ein Weib in unsre Hände,
Die mehr trägt als ein Kleiderschrank.“
Sie fuhren fort, noch mancher Plunder
Ward preis; doch eh‘ man sich’s versah,
Da sie noch schrien, so stund, o Wunder!
Die helle Wahrheit nackend da.
Die Räuberschar sah vor sich nieder
Und sprach: „Geschehen ist geschehn,
Man gibt ihr ihre Kleider wieder,
Wer kann die Wahrheit nackend sehn?“
Magnus Gottfried Lichtwer