Der schönste Baum
Sag an, wie heißt der schönste Baum
Auf diesem Erdenrund,
Seit einst im Paradiesesraum
Der Baum des Lebens stund?
Die Palme grüßt im Morgenland
Des Pilgers Aug entzückt,
Wenn ragend er im Wüstensand
Ihr hohes Haupt erblickt.
Schon ruht sichs an der Eiche Fuß,
Wenn durch den grünen Wald
Der Jägerschar des Waldhorns Gruß
Zum muntern Mahle schallt.
Die Linde glüht im Abendglanz,
Umweht von Blütenduft,
Wenn durch das Dorf zum Erntetanz
Des Spielmanns Fibel ruft.
Doch schöner glänzt im Kerzenschein
Der Tannenbaum führwahr,
Wenn nun der Vater ruft „herein!“
Der frohen Kinderschar.
Wenn dann ins lichte Heiligtum
Geblendet und entzückt,
Vor Freude bang, vor Staunen stumm,
Das Kindervolk sich drückt;
Wenn wonnevoll der Eltern Blick
Sich auf die Kleinen senkt
Und an der eignen Kindheit Glück
Mit süßer Wehmut denkt.
Da blüht in finstrer Winternacht,
Umstarrt von Schnee und Eis,
Ein Frühling auf in bunter Pracht
Am dunklen Tannenreis.
Da bringt der schliche Tannenbaum
Des Paradieses Glück,
Der ersten Unschuld Kindheitstraum
Der armen Welt zurück.
Und draußen blickt der Sterne Schar
Mit wunderholdem Schein
Wie Engelsaugen mild und klar
Vom Himmel hoch herein.
Und aus der Himmel Himmel siehst
Herab mit Vaterblick,
Und durch die dunklen Lüfte ziehts
Wie himmlische Musik:
„Also hat Gott die Welt geliebt,
Dass er aus freiem Trieb
Und seinen Sohn zum Heiland gibt,
Wie hat uns Gott so lieb!“
Karl von Gerok