Der Kuß (Johann Heinrich Voss)
Du Kleine, willst du gehen?
Du bist ein Kind!
Wie wolltest du verstehen,
Was Küsse sind?
Du warst vor wenig Wochen
Ein Knöspchen bloß;
Nun tut, kaum ausgebrochen,
Das Röslein groß!
Weil deine Wange röter
Als Apfel blüht,
Der Augen Blau wie Äther
Im Frühling glüht;
Weil deinen Schleier hebet,
Ich weiß nicht was,
Das auf und nieder bebet:
Das meinst du, das?
Weil kraus wie Rebenringel
Dein Haupthaar wallt,
Und hell wie eine Klingel
Dein Stimmchen schallt;
Weil leicht, und wie gewehet,
Ohn Unterlaß
Dein schlanker Wuchs sich drehet:
Das meinst du, das?
Ich sahe voll Gedanken
Durch junges Grün
In blauer Luft die blanken
Gewölkchen ziehn;
Da warfst du mich, du Bübin,
Mit feuchtem Strauß,
Und flohst wie eine Diebin
Ins Gartenhaus.
Nun sitz und schrei im Winkel,
Und ungeküßt,
Bis du den Mädchendünkel
Rein abgebüßt!
Ach gar zu rührend bittet
Dein Lächeln mich!
So komm, doch fein gesittet,
Und sträube dich!
Johann Heinrich Voß