Der Berg der Tränen
Luc. 18, 41.
Und als er nahe zu sie kam, sahe er die
Stadt an und weinte über sie.
Dein Heiland weint, merk auf, Jerusalem,
Er weint um dich von deines Ölbergs Höhe!
O dass mein Volk sein Heil zu Herzen nähm,
Denn diese Tränen deuten schweres Wehe;
Vor deinen Toren sieht er schon den Feind;
Dein Heiland weint!
Dein Heiland weint, o Tropfen voller Schmerz!
So tief, mein Volk, so tief bist du gefallen,
Dass auch des Friedefürsten selig Herz
Vor Leid muss brechen und in Wehmut wallen;
O blinde Welt, die sich so sicher meint;
Dein Heiland weint!
Dein Heiland weint; blick ich von Bergeshöh,
Du meine Stadt, herab zu deinen Dächern,
Und denk an all die Schuld und all das Weh
In deinen Kammern, deinen Prunkgemächern,
Dann fühl ichs wohl, auch du bist mitgemeint:
Dein Heiland weint!
Dein Heiland weint; wenn sich aus Wolken senkt
Ein süßer Tau, ein gnadenreicher Regen,
Dann sprosst, von Himmelstränen satt getränkt,
Die weite Flur in frischem, grünem Segen;
Und du, o Welt, du bleibst verstockt, versteint?
Dein Heiland weint!
Dein Heiland weihnt; hör es, verblendet Herz;
Wo Engel trauern, willst du töricht lachen?
In eitlem, Putz und frevelhaftem Scherz
Fährst du dahin, fährst in des Todes Rachen?
O sieh, wie treu die ewge Lieb es meint:
Dein Heiland weint!
Dein Heiland weint; hör es, betrübte Seel,
Erheb dein Aug in deiner Tränenkammer;
Getrost, getrost, der Hüter Israel
Sieht deinen Schmerz und fühlet deinen Jammer;
O weine nicht, dir blieb ja noch ein Freund:
Dein Heiland weint!
Dein Heiland weint, o Tropfen voller Trost,
So treu wollt uns der Menschensohn umfassen,
Dass er sich auch die herbste Erdenkost,
Das bittre Tränenbrot gefallen lassen;
Nun, Menschheit, ist er ganz mit dir vereint:
Dein Heiland weint!
Dein Heiland weint, — o edle Perlenflut;
Leg, Menschheit, sie zu deinen Reichsjuwelen;
Des Heilands Tränen und des Heilands Blut
Sind Perlen und Rubinen armer Seelen;
O schön, wer so geschmückt vor Gott erscheint:
— Dein Heiland weint!
Karl von Gerok