Selbstbetrachtung
O, kannst du nicht in deinem Herzen
Der Jugend frohe Glut bewahren?
Vermagst du es nicht auszumerzen,
Was dir gekommen mit den Jahren?
Dereinstens hast du all dein Streben
In Zeiten bittrer, herber Not
Der heil’gen Kunst anheimgegeben,
Was ringst du jetzt nach Lob und Brot?
Es ist ein leidiges Gewöhnen
An karg bemessenes Behagen,
Um das du dich dem Kult des Schönen,
Des ewig Hohen hast entschlagen.
Du zündest ihm jetzt Räucherkerzen,
Wo einst dein ganzes Herz geflammt,
Du, einst Prophet mit warmem Herzen,
Versiehst als lauer Pfaff dein Amt.
Du formst den Gott in Brotgestalten,
Erhebst und tröstest zur Genüge,
Doch um den Glauben zu erhalten,
Da sprichst du auch manch fromme Lüge.
O, raff dich auf und schaffe wieder,
Wie einst in deiner goldnen Zeit,
Wo noch der Born all deiner Lieder,
Dir rein gesprudelt, unentweiht.
Und wieder jene Pfade wandre,
Vom Glauben an dein Selbst beglücket,
Wohin du flüchtend, dich und andre
Aus der Gemeinheit Bann entrücket.
O, zeige, daß vom Druck der Jahre
Dein Innerstes blieb unversehrt
Und daß du, trotz der grauen Haare,
Noch immer deiner Jugend wert.
Ludwig Anzengruber