Das blinde Kind
Es sitzt das Mädchen trüb im Leid,
Es tastet an dem Schmuck die Hand,
Sie streift das lichte Feierkleid,
Des Farbenschein ihr unbekannt;
Des Lichtes Quell ist ihr verstopft,
Ihr Aug‘ kennt keiner Farbe Wahl,
Es kennt nur Lust, die leise tropft,
Kennt nur des Schmerzes wilden Schwall.
Sie sitzt geschmückt wie eine Braut,
Sie tastet an der Mutter Arm,
Sie liebt der Stimme milden Laut,
Den Odem, der sie streifet warm:
»Zur Gnadenmutter innig fleh,
O, klag der Himmlischen dein Leid:
›Gib Heilige, daß ich dich seh‘
In aller deiner Herrlichkeit.‹«
Das Kind gehorsam falt‘ die Händ‘,
Es faßt’s die Sehnsucht nach dem Licht,
Den Blick ins leere Nichts gewend’t,
Mit bebend leiser Stimm‘ sie spricht:
»O Gnadenmutter, hold und rein,
O gib dem Aug‘ des Sehens Gab‘
Und lasse das Geschaute sein
So lieb, wie ich Gefühltes hab‘!«
Sie blickt so angestrengt aus sich,
Als wollt‘ sie selbst sich schau’n im Traum,
Der Laut von ihren Lippen wich
Und lautlos bleibt’s im leeren Raum.
Da plötzlich ruft’s: »Ich seh‘ die Frau
Mit goldner Krone mit dem Kind.
Von meinem Auge weicht das Grau,
Ich sehe, ich bin nicht mehr blind!«
»O sprich, du stummes Bild zu mir,
O sprich, ich fasse deine Hand;
O laß der Freude Laut von dir,
Nach Wort und Form nur bist bekannt.
Doch spreche nicht, – wenn ungelenk‘
Des Schauens Kunst auch mir noch ist –
Ich seh‘, das Auge spräch‘ und denk‘,
Dein Aug‘, o Mutter, mich begrüßt!«
Sie halten beide stumm sich lang,
Als wenn sie ob des Sehens Lust
Verlernt der Sprache süßen Klang,
So voll des Dankes ist die Brust.
Und als der Dank zum Laut sich preßt,
Da klingt er ungebärdig wild,
Doch falten sich die Hände fest
Gelobend gar ein herrlich Bild.
Der Gnadenmutter sei geweiht –
Ihr, die so himmlisch sanft und mild,
Ihr, die erlöst sie aus dem Leid –
Von eigner Hand ein kunstvoll Bild.
Bei Tageslicht, bei Kerzenschein
Mit greller Seide stickt das Kind,
Und als das Bild im heil’gen Schrein –
Da war die Arme wieder blind!
Ludwig Anzengruber