Palast des Frühlings
Alle Töchter der Aurora,
Alle Blumen in dem Garten,
Standen hoffend, standen wartend
Auf die königliche Rose.
Und da ging sie majestätisch
Auf, auf ihrem grünen Throne.
Rings um ihren Königspurpur
Stand der Dornen scharfe Wache.
Und sie blickte liebreich nieder,
Sie gebildet von der Liebe,
Und die Blumen alle neigend
Grüßen sie mit stummer Ehrfurcht.
Die bewundert ihre Schönheit,
Jene liebet ihre Güte,
Diese buhlt um ihre Gnade,
Hundert neiden ihre Reize.
Und der Amor ihrer aller,
Der sie alle liebgewinnet,
Allen ihre Süße raubet,
Und nur mit dem Stachel lohnet,
Summend kam die freche Biene,
Lüstend auch nach ihrem Busen;
doch Ein Blick verjagt den Räuber,
Und verschloß den keuschen Busen.
Und die Nelken stehen neidig,
Prinzessinnen von Geblüte.
Die Jasmine, deren weiße
Frische selbst die Venus heuchelt,
Die Narzisse bei der Quelle,
Die nur sie, nicht sich mehr siehet;
Und die Lilie der Unschuld,
Schmachtend in der Liebe Tränen.
Hyazinthen, Anemonen
Und die Damen ihres Hofes
Spröde Tulpen, die nicht duften,
Aber prangen und stolzieren –
Alle stehen, alle warten,
Welche Freundin sie erwähle?
Und sie wählt das stille Veilchen,
Aller Blumen Erstgeborne,
Das im Grase sich verhüllet,
Und schon, eh es da ist, duftet,
Duftet frühe Lenzerquickung,
Und die Hoffnung aller Schwestern.
Alsobald im Lorbeerwalde
Ihres Königsparadieses
Fangen jauchzend vor Entzückung
Nachtigallen an zu schlagen;
Und so oft im grünen Frühling
Dieser Palast wiederkehret,
Singen Schäferin und Schäfer
Nur das Veilchen und die Rose.
Johann Gottfried von Herder