Am Grabe meiner Mutter von Wilhelm Hertz (1835-1902)
Am Grabe meiner Mutter
Als du dem Lichte mich gegeben,
Umfing dich selbst die ew`ge Nacht;
Doch tief in meinem eig`nen Leben
Empfind` ich deiner Liebe Macht.
Wie aus des Keims verwesten Spalten
Ein Sprößling treibt mit grünem Laub,
So steh` ich mächtig festgehalten,
O Mutter, über deinem Staub!
Nie hat mir deines Auges Schimmer
Der Kindheit Dämmerung erhellt,
Und fremd und todt blieb mir für immer,
Was mir das Nächste auf der Welt.
Nie hat mich klar auf dunkeln Wegen
Dein jugendschönes Bild umschwebt,
Doch deines Opfertodes Segen,
Das Schöne ist`s, das in mir lebt.
Ein tödlich Glück, ein sel`ges Schmerzen,
Das einst das Herz der Mutter brach,
Verklärt wirkt`s in des Sohnes Herzen
Als Weihekraft der Dichtung nach.
Als du dem Lichte mich gegeben,
Umfing dich selbst die ew`ge Nacht;
Doch tief in meinem eig`nen Leben
Empfind` ich deiner Liebe Macht.