Kanarienvögleins Traum
Es bettet sich das Vögelein
In seinen eignen Flaum,
Es hüllet sich das Köpfchen ein,
Und träumt den schönsten Traum.
Vom blauen Himmel lebenslang,
Vom dunkelgrünen Hain,
Von seinem eigenen Gesang,
Harmonisch klingend, rein.
Von einer schönern, bessern Welt,
Bei stetem Sonnenschein,
Aus Morgenrot gewebt ein Zelt,
Darunter Groß und Klein.
Des Sängers gleichgestimmte Brust,
So treu und hochgesinnt,
In Wonne, überirdscher Lust,
Vereint die Sänger sind.
Ein schön Duett, so kühn und zart,
Wird aufgeführet bald,
Kein einz’ger Misston, rau und hart,
Aus ihren Kehlen schallt.
Nur Himmelslicht, Gerechtigkeit,
Nur Klarheit, – Himmels Bild,
Verschwunden Unbill, Neid und Leid,
Nur Englein strahlend mild.
Kanaria’s Flug, Kanaria’s Traum,
Im Himmel Sieben schwebt,
Erwachend aus dem eignen Flaum
Das Vöglein sich erhebt.
Des Käfig’s Wand, des Käfig’s Luft!
– Das Vöglein faßt sich schnell:
Die Wirklichkeit ist enge Kluft,
Der Traum ein Lebensquell.
Friederike Kempner (1836-1901)