Wo ist der schöne Blumenflor
Wo ist der schöne Blumenflor,
Den wir so treu gehegt?
Vom Hoffen und vom Grünen sind
Herz, Garten, rein gefegt!
Und, wie in Einer Nacht ergraut
Ein unglückselig Haubt,
Hat sich heut‘ Nacht mein Vaterland
Geschüttelt und entlaubt!
Der Rhein entführt in’s Niederland
Die welke Sommerlust,
Läßt kahl und fahl die Felder uns,
Den Frost in unsrer Brust.
Die Silberfirnen hüllen sich
In dunkle Nebel ein;
Doch bald wird jeder Kehricht nun
Ein blanker Schneeberg sein!
Und Alles wird so klein, so nah,
So dumpf und eingezwängt;
Wie drückend dicht ob unserm Haubt
Der graue Himmel hängt!
Auf jedem Kreuzweg sitzt ein Feind –
Es ist ein harter Stand:
Mit Schurken athmen gleiche Luft
Im engen Vaterland!
Gottfried Keller
19. Juli 1819 – 15. Juli 1890