Im Herbst erblichen liegt das Land
Im Herbst erblichen liegt das Land
Und durch die dichten Nebel bricht
Ein blasser Strahl vom Waldesrand,
Den Mond doch selber sieht man nicht.
Doch schau! der Reif wird Blüthenstaub,
Ein Myrthenhain der Tannenwald,
Das falbe, halberstorbne Laub
In bunten Blumenwogen wallt.
Welch Traumbild durch das Herbstgrau lacht?
Ist’s Frühlingstraum vom neuen Jahr? –
Die Freiheit wandelt durch die Nacht
Mit wallend aufgelöstem Haar!
Und wandelnd späht sie rings und lauscht,
Die bleiche, hohe Königin;
Und ihre Purpurschleppe rauscht
Leis über dunkle Gräber hin.
Sie hat gar eine reiche Saat
Verborgen in der Erde Schooß:
Sie forscht, ob die und jene That
Nicht schon in zarte Keime sproß.
Sie drückt ein Schwert an ihre Brust,
Es blinkt in weißem Dämmerlicht:
Sie bricht in wehmuthvoller Lust
Manch blutiges Vergißmeinnicht.
– Es ist auf Erden keine Stadt,
Es ist kein Dorf, deß stille Huth
Nicht einen alten Kirchhof hat,
Darin ein Freiheits-Märtrer ruht.
Gottfried Keller
19. Juli 1819 – 15. Juli 1890